Der Schumann Komplex | Website Irene von Neuendorff |
Peter Dreher und Irene von Neuendorff waren 32 Jahre lang das, was man ein Künstlerpaar nennt. Er, der anerkannte und 27 Jahre ältere Maler und Kunstprofessor, malte realistisch. Sie, die politisch engagierte und vielseitig begabte Künstlerin malte und malt ebenfalls figurativ.
Sie begegneten sich an der Akademie der Bildenden Künste in Karlsruhe Mitte der 80er Jahre. Sie war gerade als studentische Vertreterin in den Hochschulsenat gewählt worden und war von der Höflichkeit des Professors angetan, der sich ihr als Einziger in dem ihr unbekannten Gremium namentlich vorstellte. Sie studierte in einer Zeit der eitlen Silberrücken, die Frauen nicht viel künstlerische Begabung zutrauten. Zu ihnen gehörte neben Georg Baselitz auch Markus Lüpertz, der sich gern als Malerfürst gerierte und durch geckenhafte Kleidung und Selbstinszenierung auffiel.
Irene von Neuendorff hatte sich erst im zweiten Anlauf für das Kunststudium entschieden. Wie einen Sechser im Lotto hatte sie sowohl einen Medizinstudienplatz in München als auch einen Studienplatz in Bildender Kunst in Karlsruhe ergattert. Sie entschied sich zunächst für die Medizin, um dann doch nach einem Jahr auf die Kunst umzuschwenken. Sehr zu Enttäuschung ihres Vaters, deren Eltern, ostpreußische Flüchtlinge, ihm ein Medizinstudium nicht hatten finanzieren können.
Sie nahm die Medizin mit und stellte als Debüt in der Klasse von Rainer Küchenmeister eine Werkreihe mit lebensecht nachgebildeten Furunkeln vor, die die Entwicklung des Hautgeschwürs in akribisch recherchierten Etappen als dreidimensionales medizinisches Modell nachstellte. Die Mitstudenten waren angeekelt.
Bis heute führt Irene von Neuendorff den Pinsel wie ein Skalpell. War es während ihres Studiums und in den folgenden Jahrzehnten der pointierte Realismus der Neuen Sachlichkeit, so ist es in der neuesten Serie der „Planeten“ der Hochrealismus des Barock und der dramatische Tenebrosostil, wie man ihn von Michelangelo Merisi de Caravaggio kennt, die sie faszinieren.
"Die Kunst liegt darin, das Licht und den Schatten in dem Maße ineinander zu treiben, dass keine dieser Kräfte eine unbillige Übermacht gewinnt und dazu die Perspektive sehr sinnfällig das Auge davon überzeugt, seine Richtigkeit, das heißt die vollständige Illusion zu haben", äußert sie sich über ihre neue Werkreihe von Schädeln, die so dramatisch angeleuchtet erscheinen, als kreisten sie als Satelliten im eisigen Orbit.
Peter Dreher malte Totenköpfe, weil ihm deren Form vollkommen erschien:
„Was mich am Totenkopf interessiert, ist seine runde, kugelige und damit perfekte Form.“ Die verschiedenen Inhalte des aufgeladenen, manchmal sogar tabuisierten Bildinhalts interessierten ihn nicht. Der Totenkopf war das Motiv, dem er am längsten die Treue hielt. Ein Motiv, das den Beginn und das Ende seines Werkes markiert und damit wie eine Klammer wirkt.
Am Sterbetag sagte er zu seiner Gefährtin: „Schau, da draußen steht jemand.“ Er zeigte in die Nacht und fertige seine letzte Zeichnung an, zu undurchdringlicher Schwärze verdichtete Linien. Schwarz ist das universelle Bild des Todes in der Literatur und in der Kunst.
In der Nachkriegszeit, als Papier und Stifte kostbare Mangelware darstellten, zeichnete der Gymnasiast Peter Dreher mit 14 Jahren nach Modell verschiedene Ansichten des Totenkopfes. Ein Aquarell aus dem Jahr 1947 zeigt den Totenkopf mit dramatisch geöffneten Kiefern, als sei er in einem ewig andauernden Schrei gefroren. Das kleine Werk auf dem billigen, grobfaserigen Papier lässt den späteren Meister schon erahnen. Die Pinselführung hat ein starke Spannung, die perspektivischen Verkürzungen sind fehlerfrei in die Fläche gesetzt und die Farbgestaltung unterstreicht Dreidimensionalität und illusionistische Tiefe. Es hat den Anschein, als hätte der Junge das Papier irgendwo gefunden, denn die linke untere Ecke ist abgerissen.
Mitte der der Nuller Jahre entstanden große Papierarbeiten. Auf diesen großen Formaten (je ca. 300 cm x 160 cm) reduzierte er die Schädel zu einfachen Piktogrammen, die in einem freien Rhythmus, in einer scheinbar zufälligen Anordnung auf dem schwarz gemalten Bildgrund flottieren. Um den einzelnen Schädel möglichst wenig individuell zu gestalten, nahm er eine Schablone zu Hilfe, mit der er die Umrisse aufzeichnete. Innerhalb dieser ließ er die flüssige Gouachefarbe auf der Malfläche verlaufen, sodass sich die Binnenform mehr oder weniger selbst gestaltete.
Auch Irene von Neuendorff versteht die Vorbehalte und die damit verbundene Tabuisierung des Motives nicht. Tragen doch, ihrer Meinung nach, alle Menschen unter ihrer Haut, den Muskeln und dem Fett den Schädel dauernd mit sich herum. Wie schrecklich sähen sie aus, hätten sie ihr unterirdisches Gerüst nicht. Wie zusammengehauene Knetfiguren, an denen ein missgelauntes Kind seine Freude verloren hat?
Würde man sie heute fragen, wer ihr malerisches Vorbild sei, würde sie augenzwinkernd sagen: „Natürlich mein Mann“. Und dann: „Anton von Werner“. Die als Salonmalerei geschmähte Kunst Ende des 19. Jahrhunderts zeigt vollkommene Illusion in Vollendung. Mit wenigen gekonnten Pinselstrichen wird die Haptik von Taft, Samt, Rosen und Mahagoniholz, das im Schatten des Abends verdämmert, hingeworfen, als sei es das Beiläufigste auf der Welt. Anton von Werner ist heute fast in Vergessenheit geraten. Bekannt bleibt sein Riesenopus in der Alten Nationalgalerie in Berlin. Es zeigt die Kaiserkrönung 1871 im Schloss von Versailles. Auf dem Oeuvre verliest Reichskanzler Otto von Bismarck vor Militärs und Wilhelm von Preußen die Kaiserproklamation, die den preußischen König zum deutschen Kaiser macht. Die Schriftstellerin Mariam Kühsel-Hussaini hat in wackeren Wortgirlanden dem Direktor der Berliner Nationalgalerie Hugo von Tschudi in einer gleichnamigen Biografie ein Denkmal gesetzt, umso strahlender, als sie nicht müde wurde Anton von Werner als Gegenbild der künstlerischen Avantgarde und als Anhänger der ewig gestrigen Malerei zu verunglimpfen. Die Begründungen für die Entstehung einer künstlerischen Avantgarde zu Beginn des 20. Jahrhunderts sind Legion und in großen Teilen auch im biederen Schulunterricht angekommen. Unter anderem hat es die Erfindung der Fotografie möglich gemacht, dass sich die Maler von der Abbildung der Realität verabschiedeten und neue Pfade beschritten. Das Bild wurde zum Bild und war keine Illusion: Ceci n’est pas une pipe.
Sowohl Peter Dreher in den 50er Jahren als auch Irene von Neuendorff in den 80er Jahren litten unter dem Diktat der abstrakten Malerei, die damals an der Karlsruher Kunstakademie herrschte. Ersterer galt als malerischer Spießer, weil er realistisch malte und nicht im Stil des angesagten abstrakten Expressionismus, der aus den USA herübergeschwappt war, oder sich der Macht des Informel beugte.
Gerhard Richter, 1932 im gleichen Jahr geboren wie Peter Dreher, war während seines Studiums in der DDR zunächst dem Diktat des Sozialistischen Realismus im Sowjetstil ausgesetzt, um sich dann an der Düsseldorfer Akademie einem Anything goes gegenüberzusehen, dem er schließlich mit einem ganz eigenen Realismus begegnete. Diese Suche nach dem, was einem das Eigene ist, wird auf eindringliche Art in dem Film „Werk ohne Autor“ von Florian Henckel von Donnersmarck in Szene gesetzt.
Plötzlich wirkt der Satz des Älteren zur Jüngeren: “Für Ihre Malerei gebührt Ihnen eine Tapferkeitsmedaille.“ nicht mehr giftig-süffisant, sondern einfühlsam und ein wenig verschwörerisch. Jahre später wird er den Satz zu Ende führen: „Du warst damals die einzige in den ganzen Laden, die es wagte figurativ zu malen.“ Um sie herum herrschte das Diktat der gestischen Malerei eines Max G. Kaminski oder Per Kirkeby. Eine Kommilitonin meinte es wohl gar nicht böse, als sie in einer rhetorischen Frage zusammenfasste: „Irene, warum wirken deine Bilder so dilettantisch?“
Sie setzte ihre Neuinterpretation der Neuen Sachlichkeit allen Widerständen zum Trotz durch und nahm diesen Stil mit zum Studium in Paris. Dort stieß er ebenso auf wenig Gegenliebe wie in Karlsruhe. Die Reaktionen waren diesmal „Votre peinture est très allemande.“, als setzte sie die Schreckensherrschaft der Boches mit malerischen Mitteln fort.
Begeistert von dem Porträtisten und Meister der Neuen Sachlichkeit Otto Dix brachte sich Irene von Neuendorff die mittelalterliche Lasurmalerei bei und verwendete möglichst originale Pigmente und Malmittel, was ihr Mitte der 80er Jahre eine Schwermetallvergiftung einbrachte, die im Krankenhaus behandelt werden musste.
Auch wenn sie sich zunächst vorgenommen hatten, dass sie ihre malerischen Wege getrennt gehen wollten, so ließen sie doch mit der Zeit von diesem Vorhaben ab.
Sie besuchte ihn in seinem abgeschiedenen Atelier in St.Märgen. Kaufte sich einen Transporter, um ihre Leinwände zwischen ihrem Karlsruher Atelier und jenem im Hochschwarzwald hin- und hertransportieren zu können.
In dieser Zeit holte sie ihr Studium nach und kompensierte in diesen intensiven Stunden des gemeinsamen Arbeitens die viele verschwendete Zeit in der Akademie. Sie nahm, was sie kriegen konnte. Bereits ihr Großvater hatte ihr vorgelebt, dass man alles lernen kann, was man sich von anderen abschauen konnte.
Es ist nicht nur die eiserne Konsequenz, die Anerkennung und Bewunderung erzeugt, sondern die delikate Malerei, die innerhalb des überbordenden Angebots, man malt seit den 80er Jahren wieder, eine Sonderstellung einnimmt. Irene von Neuendorff beschreibt das Besondere der Malerei in einem Katalogtext „Der glückliche Sisyphus“ folgendermaßen: „Was unterscheidet nun das absolute vom normalen Sehen? Vereinfacht ausgedrückt könnte man sagen, es ist die Fähigkeit zu höchst sensiblen Fragmentierung in beide Richtungen. Der absolut Sehende kann das, was er sieht, in seine Einzelteile zerlegen und diese wieder zu dem Farbton zusammenfügen, den er vor sich hat, ohne ihn ausprobieren zu müssen, ohne ihn abzugleichen oder zu korrigieren. Das, was ihn von anderen „normalen Sehern“ unterscheidet, ist seine schlafwandlerische Sicherheit.“ Im Februar 2020 starb Peter Dreher im Alter von 87 Jahren. Einen Partner nach 32 Jahren zu verlieren ist von einer betäubenden Wucht durch eine Endgültigkeit, wie man sie selten im Leben erfährt. Zunächst bleibt ein Vakuum und Zeit, die nicht zu vergehen scheint. Trauer hat ihr eigenes Tempo und sie lebt den Trauernden und nicht er sie. Er kann sie nicht beeinflussen oder beschleunigen. Die Phasen des Verlustes verlaufen nach ihrer eigenen Gesetzmäßigkeit. Irene von Neuendorff begann nach der siebenjährigen Pause nicht sofort damit ihre Maltätigkeit wieder aufzunehmen. Sie durchlebte etwas wie eine Schwangerschaft, indem etwas in ihr heranreifte, vor ihr verborgen und zunächst nicht fassbar. Sie begann wieder mit Porträts und fragte sich: „Warum tue ich mir das an?“ Malen ist nicht Fahrradfahren, das man angeblich nicht verlernt, es hat neben dem Sehen oder der Schulung desselben viel mit Technik zu tun. Diese kann man verlernen so wie das Spielen eines Instruments, das man jahrelang vernachlässigt hat. Die Finger wirkten unbeholfen und die Farbmischungen leblos, tumb. Ein paar Schädel waren dabei als Etüde. Als der Sommer vorbei war, begann das totgeglaubte Instrument zu singen. Statt Angst bestimmte Neugier den Tag. Und der Geist des Toten und die Malerin fielen sich in die Arme. Sie arbeitet nun in seinem Atelier, in dem er so viele gute Energie hinterlassen hat. Diese, die noch in dem lichtdurchfluteten Raum flottiert, scheint ihr ermutigend zuzunicken. Und es erscheint ihr nicht anmaßend zu denken und zu fühlen, dass sie das, was er nicht zu Ende gebracht hat, nun zu Ende führt. Zu Ende führt und zu einem Neubeginn, indem sie das vereint, was sie einst scheinbar getrennt hat, die romanische, virtuose und die redliche, schonungslose deutsche Malerei. Präzision und Farbweichheit in einem. Dabei ist Irene von Neuendorff nur auf der Suche nach der künstlerischen Weltformel und damit ist und war sie nicht die Einzige. Und sehr beruhigt ist sie darüber, dass diese Suche erst einmal nicht zu einem Ende führt.