Und immer wieder ein zylindrisches Glas
Vielfältige Brechungen des Realen: eine Retrospektive der Werke von Peter Dreher in Karlsruhe
Wie Kacheln überziehen in acht Reihen etwa neunhundert kleine Bilder im gleichen Format die Wände des zentralen Ausstellungsraumes im Badischen Kunstverein in Karlsruhe. Im Jahr 1974 hatte der Maler Peter Dreher, der als Professor die Außenstelle der Karlsruher Kunstakademie in Freiburg leitet, begonnen, ein Glas zu malen. Er setzt es bis heute fort. Aus jedem Jahr fünfzig Beispiele summieren sich zu einer unendlich scheinenden Aneinanderreihung des gleichen Motivs, das anfänglich auf Malpappe, dann auf Leinwand realisiert wurde.
Ein hohes zylindrisches Glas ist auf eine Fläche gestellt, die einen Horizont bildet. Das wechselnde Licht und seine Reflexe, die Spiegelungen, die fragmentarisch im gläsernen Innenraum oder auf der Außenhaut ein Stück der umgebenden Realität brechen, erfahren subtile Veränderungen. Es ist das ähnliche, aber niemals Gleiche, das Licht, das sich nicht wiederholt, aber auch ein wenig von der subjektiven Befindlichkeit des Malers, die Eingang finden. Als dies führt zu Verrätselungen der Erscheinungen und animiert das Auge kleine Unterschiede zu ergründen. Es ist eine endlose Arbeit, die klärt, in der stetig wachsenden Anzahl aber auch immer stärker irritiert, so genau der Blick auch sucht und an den minimalen Unterschieden, den Tönungen und Reflexen, Halt findet. Es sind Valeurs in Grau und im Erdigen, leichte Verschiebungen des als wirklich Genommenen, die in der Vielzahl eine Metaphysik des Gegenstandes schaffen.
Man entdeckt schnell, dass das immer gleiche Gefäß und das gleiche Format Bühne sind für eine forschende Untersuchung und nicht nur manisch durchgehaltenes Konzept oder fixe Idee. Die schürfende Spur des Pinsels, die tonige Palette , das Sujet des bildnerischen Interesses schaffen stets aufs Neue eine Verunsicherung, die im Bild Gewissheit wird. "Tag um Tag ist guter Tag", nennt Peter Dreher dieses Lebenswerk, in dem er den vielfältigen Brechungen des Realen nachspürt. Auch in der Menge verliert das einzelne Nichts an malerischer Delikatesse, konzeptuelle Intelligenz und dinghafter Präsenz.
Natürlich ist die Anzahl der Bilder wichtig und unübersehbar. Doch der Betrachter ist aufgefordert, immer wieder von neuem die Annäherung an das einzelne Bild zu versuchen, es aus sich selbst heraus zu ergründen. Das Unterfangen ist kein reproduktiver Prozess, sondern Erkenntnis des Einmaligen und Unwiederholbaren. Die vom Maler bestimmten Spielregeln führen zur Erfahrung eines differierenden Sehens und deren anschaulich gewordener Gestalt. In dieser Bild gewordenen Autobiografie wird die Malerei in ihren Möglichkeiten und Veränderungen, in ihren Feinheiten und in ihren unterschiedlichen Konditionen erprobt. Es findet nicht nur eine Selbstvergewisserung des Malers statt, sondern auch die des Mediums. So ist ein Lehrgang der "Schule des Sehens" entstanden, Raum füllend und von hoher malerischer Qualität, der dem Gegenständlichen eine ungewöhnliche intellektuelle Stringenz verleiht.
Angesichts des quantitativen und qualitativen Reichtums dieser Tafeln, die als Raumensemble eine unwiderstehliche Suggestion entwickeln, kommt einem nebenher auch der Gedanke an die mutlose Konformität deutscher Museumssammlungen. Warum hat sich eigentlich bisher kein einziges deutsches Museum diese Installation gesichert, um einen gewichtigen und eigenen Akzent zu setzen und eine überzeugende Vergegenwärtigung "realistischer Malerei" vorzuführen, die eine spannende Auseinandersetzung mit konzeptuellen Ideen, die Wirkung des Abbildes, dem Sehen schlechthin darstellt? Der Raum mit den Miniaturen von "Tag für Tag ist guter Tag" ist der Mittelpunkt der Karlsruher Ausstellung. Doch der Badische Kunstverein geht in dieser Retrospektive zurück bis ins Jahr 1948. Die Schau setzt ein mit einem Fischstillleben des gerade Sechzehnjährigen. Dreher studierte an der Akademie der bildenden Künste in Karlsruhe bei Karl Hubbuch, Wilhelm Schnarrenberger und Erich Heckel. Diese Maler bestimmten seine Anfänge und haben eine tiefe Prägung hinterlassen. Ding und Landschaft sind die dominierenden Themen, selten Figuren wie in dem "Akrobaten"-Bild von 1957 oder den "Fahrradfahrern" von 1964. Die Stofflichkeit der Oberfläche, das Interesse, aus einer trocken wirkenden Farbe graduelle Effekte zu erzielen, eine Lebendigkeit der Struktur zu erreichen und dem Bild Licht als Leben zu gewinnen, zeichnet schon die frühen Werke aus, auch wenn die Sujets in ihrer Dinglichkeit zunächst isoliert und objektiviert erscheinen.
In den siebziger Jahren wagt sich Dreher an Landschaftsbilder. In den Darstellungen des Hochschwarzwaldes umgeht der Maler die Klippen romantischer Süßlichkeit, indem er das Bild parzelliert und die Landschaft in mehrfachen Wiederholungen durch eine veränderte Färbung des Lichts verwandelt. Es entsteht eine atmosphärische Verdichtung, in der das Geschmackvolle oder gar Geschmäcklerische im scheinbar Faktischen des Abbilds zerbricht. Räumliche Staffelungen, wo Hügelkette sich hinter Hügelkette legt und ein diffuser Raum entsteht, so als ob der Gegenstand in weite Ferne entweicht, geben dem Bild das Spezifische eines Augenblicks von unendlicher Dauer. Die Einmaligkeit und Schönheit eines naturhaften Moments sind für Dreher keine Tabus. Sinnlichkeit der Darstellung und bildnerische Intelligenz machen eine überzeugende Anverwandlung möglich. "Der Nachmittagshimmel im Hochschwarzwald" von 1976 - zweimal dreißigteilig und einmal zweiunddreißigteilig - belegen dies auf besonders überzeugende Weise.
Ganzheit und Fragment oder Ausschnitt werden von Peter Dreher leichthändig als Kunstgriffe genutzt. Hinzu kommt ein instinktives Gespür für atmosphärische Veränderungen des Lichts. Diese verändern die Erscheinung vollständig wie etwa in den ansichten von "San Salvatore" von 1974. Zunächst erhebt sich die Insel schemenhaft im morgendlichen Dunst aus dem Meer, gewinnt mehr und mehr Kontur; am Tage präsentiert sie sich mit scharfer Silhouette, um schließlich, von Lampen erleuchtet, als Kranz im Dunkeln zu versinken. Die in Sequenzen erfassten Zustände sind wie zu einem Film zusammengefügt. Sie dokumentieren neben der Empfindung und Intelligenz des Auges auch die Sensibilität einer realistischen Aneignung, die das Besondere selbst noch im Gewohnten und Banalen entdeckt. Der Standpunkt des Malers bestimmt das Bild, etwa in den beiden Werken "Venedig, Palazzo Mula" und "Venedig von hinten", jeweils 1975 entstanden.
Peter Dreher gelingen Vergewisserungen seiner Umgebungen. Ob auf Reisen in Italien, Frankreich oder in New York, ob in Freiburg oder im Schwarzwald, stets findet er seinen Ort im Bild. Das reicht bis zu scheinbar ironisierenden Darstellungen einer Puppe im dem "Großen amerikanischen Stillleben "Doll" von 1981 oder den nicht frei von Komik bleibenden "30 Versuchen, im Frühjahr 1979 die Mickey Mouse zu malen". Doch es ist nie ironische Distanz, die in Abwehr aufgeht, sondern Anteilnahme, die verbunden ist mit malerischer Neugier. Dafür gibt es in der Ausstellung zahlreiche Beispiele: den "Bilder-Speicher" von 1988/89 mit angeschnittenen Porträts, Figuren und Gegenständen, das Raster des mittig gesetzten Wortes "Bild" oder die zu einer neuen Ganzheit zusammengesetzten Zitate aus Bildern unterschiedlicher Autoren.
Peter Dreher schreibt selbst im Katalog über die abschießende Serie der Ausstellung "Das Großplakat in Aquarellen", eine Arbeit, die zwischen 1988 und 1993 entstand: "Voraussetzung für das Malen der Reihe "Tag um Tag ist guter Tag" ist Ruhe und Abgeschlossenheit. Ist die nicht gegeben, gibt es andere Malanlässe, zum Beispiel Blumen, zum Beispiel ein Plakat, zum Beispiel schöne Bilder, zum Beispiel die Aquarelltechnik, zum Beispiel das Wohlgefallen des Betrachters, zum Beispiel den Zauber des lauten Alltäglichen." Ein Großplakat des deutschen Blumenhandels war Auslöser für den Künstler dieses in 84 einzelne Aquarelle umzusetzen. Das Plakat wurde in Parzellen aufgeteilt und so dessen gegenständliche Direktheit aufgehoben. Durch Fragmentierung wurde ein Grad der Abstraktion sichtbar gemacht. Es ist reine Abstraktion des Details, das in sich realistisch bleibt. Mit technischer Bravour findet hier das Plakative und Auffordernde der Werbung eine Umsetzung ins Künstlerische - vorausgesetzt man kann es wie Peter Dreher.
Frankfurter Allgemeine Zeitung: Feuilleton, 1. September 1993