Früher war man darüber erstaunt, wenn Maschinen die Arbeit von Menschen verrichten konnten. Heute ist man verblüfft, wenn Menschen die Arbeit von Maschinen machen können. Der Hyperrealismus, wie man ihn von einem seiner berühmten Vertreter, dem US-Amerikaner Richard Estes kennt, hat eine derartige Perfektion erreicht, dass seine Betrachter sich vor einem Foto wähnen und dies allein als ein herausragendes Qualitätsmerkmal erachten. Dieser Malstil zeichnet durch gestochen scharfe Oberflächen aus, präsentiert feinst abgestufteste Farben und erscheint dadurch wie die Mimikry von Fotografie. Von einem weitern berühmten amerikanischen Maler Andy Warhol stammt gar der Satz: „Ich möchte eine Maschine sein.“ Auch wenn wir die Gemälde Peter Drehers betrachten, sind wir erstaunt und fragen uns: Wie ist das möglich? Wie kann aus ein paar Gramm Farbe auf einer Leinwand, also aus reiner Materie, die Illusion eines Glases, eines Silberpokals oder eines Blumenbuketts entstehen? So echt, als ob man es mit den eigenen Händen greifen könnte. Hier denkt man allerdings weniger an Nachahmung von Fotografie als an die Stillleben des „Goldenen Zeitalters“ der Niederlande des 17. Jahrhunderts oder an die Arbeiten der Vertreter des französischen Realismus’. Aber auch unter diesen Könnern gab es Unterschiede. Warum ist das Lapislazuli eines Vermeers so unvergesslich? Was macht ein Blumenstillleben des französischen Malers Henri Fantin-Latour herausragend in seiner leuchtenden Farbigkeit, die wie ein lebendiger Körper wirkt. Es muss eine Verbindung geben zwischen den genannten und wenig anderen und einem Peter Dreher. Die meisten Menschen kennen die besondere Gabe des absoluten Gehörs. Für den absoluten Geruchssinn gibt es zumindest ein literarisches Vorbild, das des Parfümeurs und Mörders Jean Baptiste Grenouille aus dem weltberühmten Roman „Das Parfüm“ des Schriftstellers Patrick Süßkind. Aber mir ist nicht bekannt, dass jemand aus Kunst und Wissenschaft schon einmal auf die Idee gekommen ist, diese Gabe auch auf das Sehen zu übertragen. Peter Dreher verfügt über die Fähigkeit des absoluten Sehens. Es ist seine Fähigkeit die Farben, ihre Mischungen und Nuancen, so zu fragmentieren, dass diese den Maler zu einem verblüffenden Illusionismus befähigen. In diesem Bereich ist Künstler, ein Schüler von Karl Hubbuch und Erich Heckel, eine Inselbegabung. Bei den Gesprächen mit ihm über seine Malerei fallen immer wieder Verbindungen von Verben und Nomen auf, die einem sofort einleuchten, die man aber nicht so verwenden würde. Bei einer missglückten Farbmischung bemerkt er zuweilen: Dieses Rot hat gar keinen Klang. Peter Dreher ist Synästhet: Er hört Farben und sucht nach deren absoluter Stimmigkeit und Harmonie. Sehen ist kein reines und mechanistisches Abbilden, sondern ein hochkomplexer Erkenntnisprozess. Was unterscheidet nun das absolute vom normalen Sehen? Vereinfacht ausgedrückt könnte man sagen, es ist die Fähigkeit zu höchst sensiblen Fragmentierung in beide Richtungen. Der absolut Sehende kann das, was er sieht, in seine Einzelteile zerlegen und diese wieder zu dem Farbton zusammenfügen, den er vor sich hat, ohne ihn ausprobieren zu müssen, ohne ihn abzugleichen oder zu korrigieren. Das, was ihn von anderen „normalen Sehern“ unterscheidet, ist seine schlafwandlerische Sicherheit.
Viel ist bereits über den Hauptbestandteil von Peter Drehers Werk, der Serie „Tag um Tag guter Tag“ geschrieben worden. Der Titel der Werkgruppe trägt den Namen des sechsten Beispiels aus der Koan-Sammlung Biyan Lu, „Die Aufzeichnungen von der smaragdenen Felswand“. Viele Kunsthistoriker und Kunstvermittler haben in den Maler Askese und Weltabkehr hineingeheimnist, sein Handeln und sein Werk im Geist des Zen Buddhismus interpretiert, obwohl der so Gesehene immer wieder ausdrücklich darauf hingewiesen hat, dass er kein Buddhist, überhaupt kein Gläubiger im religiösen Sinne sei.
Hinlänglich bekannt ist auch die Verbindung Drehers mit Künstlern wie On Kawara oder Roman Opalka. Dieser Zusammenhang, der die Glas-Serie zur Konzeptkunst erklärt, greift viel zu kurz. Sie stellt vielmehr ein Klischee und damit eine Vereinfachung dar, um das Unbegreifliche zu fassen. Die schiere Zahl von über 5200 Bildern von leeren Wassergläsern und die Dauer der Serie – im Jahr 2014 jährte sich der Geburts-Tag dieser Werkreihe zum vierzigsten Mal – erstaunt und verunsichert. Wer wollte sich so etwas zumuten? Die schiere Fülle ist ein radikales Statement gegenüber einer Gesellschaft, in der das Bedürfnis nach dem dauernden Wechsel und dem immer Neuen regiert. Peter Dreher erscheint uns als ein „glücklicher Sisyphos“, wie der Mensch von dem französischen Philosophen und Schriftsteller Albert Camus genannt worden ist; der Mensch, der um seine Endlichkeit und Vergeblichkeit weiß. Würden wir einem Menschen, der über 5000 Mal das Gleiche macht, in einem schnellen Urteil einen Zwangsstörung attestieren, so sieht der Philosoph auch diese Wahl zur Selbstgestaltung als Freiheit an. Der Fels, den er immer wieder in großen Mühen nach oben rollen muss, ist seine Sache und von daher kein Schicksal in Unfreiheit und eine schicksalhafte – von einer höheren Instanz geschickte – Strafe. Seine Wahl, seine Entscheidung macht ihn zu einem Glücklichen und nicht zu einem Verurteilten.
Die Entscheidung, die Peter Dreher getroffen hat, nämlich das Motiv nicht zu wechseln, muss dem Betrachter zunächst als großer Verzicht erscheinen. Der Maler selbst äußert sich dazu folgendermaßen: „Ich habe mir diese scheinbare Beschränkung auferlegt, um all meine Energien auf das zu bündeln, was mir wirklich wesentlich und wichtig ist: die Malerei.“ Für ihn ist also die Malerei nicht das Mittel zum Zweck, der Zweck nämlich, die Wirklichkeit oder eine Interpretation derselben abzubilden oder in irgendeiner Weise darauf zu reagieren in einer Art Künstler-Welt-Beziehung. Die Malerei ist Zweck an sich. Er macht sich selbst zu einem Instrument einer Tätigkeit, die für ihn so notwendig und so selbstverständlich wie das Atmen ist.
Bildet die Serie „Tag um Tag guter Tag“ eine Hauptstimme in dem Konzert des Gesamtwerkes des Künstlers, muss man sich bewusst sein, dass Musik aus dem Geflecht vieler Instrumente entsteht. Aus diesem Grund wird in dieser Ausstellung die Aufmerksamkeit auch auf die anderen Teile der Partitur gerichtet. Eine dieser Stimmen würde ich als „Fragmente“ bezeichnen, dabei zieht das große Fragmentbild sicher das Hauptaugenmerk auf sich. Bei näherer Betrachtung zuckt man zurück, das Bild ist „verletzt“! Durchaus keine Übertreibung, wenn man um das innige Verhältnis des Malers zu seinen Bildern weiß, die er häufig als „seine Kinder“ bezeichnet, vielleicht wäre „seine Geschöpfe“ an dieser Stelle auch vorstellbar. Auf der Bildoberfäche zeigen sich Risse, Craqueles, Abtragungen, untere Schichten scheinen durch und wirken der äußeren Witterung schutzlos preisgegeben. Überhaupt hat es den Anschein, als wäre das Gemälde längere Zeit im Freien gelegen. Wie konnte der Künstler so etwas zulassen? Es muss vom Betrachter zunächst ein gewisser Widerwillen überwunden werden, um zu einer Faszination zu gelangen, die dieser Veränderung des Bildes etwas abgewinnt, dergestalt in ihr eine äußere Kraft zu sehen, die mit einer gewissen Gesetzmäßigkeit gewirkt hat, die immer der Urgrund der Schönheit ist. Allmählich werden Lineaturen und Farbnuancen sichtbar, die etwas Ästhetisches haben, die sich über das vom Künstler Gestaltete legen oder sich mit ihm verschränken und dadurch mit dem Gewollten in einen Dialog treten. Es gehört viel mehr Mut dazu, die Kontrolle über etwas abzugeben als sie zu behalten, Mut und ein großes Vertrauen. Darunter frei flottierend die Chrysanthemen. Sie werden zu dem, was ihrem Erschaffer das Wesentliche ist, Malerei und Manifeste der Schönheit. Dreher hat den Mut zu huldigen, wo andere provozieren, die auf sich aufmerksam machen wollen, um sich aus der Kakophonie des „Anything goes“ herauszuheben. Das Laute ist die Sache des Künstlers nicht. Er fängt an zu malen, nachdem er das Trauma des Aufenthaltes in einer Nationalpolitischen Erziehungsanstalt gerade überwunden hat und sagt dazu: Ich habe angefangen zu malen, weil ich dabei und dadurch in Ruhe gelassen wurde – so wie Schlafende nicht gestört werden.
Auch die anderen Fragmente von den Blumen zeigen eine gewisse Radikalität. Der Gegenstand wird nicht bis zum Ende durchgestaltet. Bleistiftskizzen bleiben, werden nicht mit Farbe gefüllt, Zeichen des Arbeitsprozesses werden sichtbar und nicht kaschiert, wie die kleinen Löcher, die entstanden sind, als Schablonen auf dem Malgrund befestigt wurden. Hier wird postuliert: Das ist kein Blume, keine Glasschale, das ist ein Bild davon und das Bild zählt für sich und wird nicht in den Dienst einer Darstellung gestellt. Auch dem Betrachter kommt eine wichtige Rolle zu, in dem er durch das Sehen der Dinge die Dinge zu Enden sehen und damit zu Ende denken muss. Und dadurch werden sie Teil seiner eigenen Wirklichkeit. Peter Dreher „denkt“ seine Malerei der Fragmente ganz im Sinne der Phänomenologie Edmund Husserls, von deren Grundideen er seit langem fasziniert ist. Der Stoff unserer Wahrnehmung wird er durch den Akt des Bewusstseins als real, phantasiert, geträumt oder gemeint. Wir geben dem, was wir sehen und wahrnehmen einen Sinn. Ein zentraler Begriff bei Husserl ist der der Abschattung. Gegenstände sind uns nie als ganze Einheit präsentiert, sondern zeigen sich uns nur in Seitenansicht. Nie haben wir die vollständige Perspektive auf sie, was letztlich der völligen Unwahrnehmbarkeit des Gegenstandes entsprechen würde. Voraussetzung der Wahrnehmung ist deshalb die Perspektive, die damit aber auch gleichzeitig die Verborgenheit der Sache ausmacht. Diese Vorstellung vollzieht der Künstler durch die Gestaltung der „unvollständigen Formen“, der Fragmente. Durch die dem Betrachter aufgenötigte aktive Rolle in einer Betrachter – Kunstwerk – Künstler – Relation beweist Peter Dreher, dass es weder ein objektives Sehen und Wahrnehmen und auch kein (objektives) Objekt gibt. Das Objekt steht immer in einem Verhältnis zum Subjekt, wird durch dieses überhaupt erst erschaffen.
Eine Episode, die mir Peter Dreher erzählte, brachte mich auf die Idee des gezielten Erblindens, um in diesem die Neugeburt der Sensation möglich zu machen. Während neun Tagen legte sich der Maler folgende Beschränkung auf: Er verband seine Augen mit einem Tuch und legte dieses nur ab, um das Glas zu malen. Nach dem Malprozess legte er es wieder an und verbrachte die restliche Zeit des Tages in völliger Dunkelheit. Durch dieses Tun verdeutlicht uns der Künstler seine Absicht, wenn er sich vor immer das gleiche Modell setzt. Er trachtet danach, den Gegenstand so zu sehen, als sähe er ihn das erste Mal, als hätte er ihn noch nie zuvor gesehen. Er „erblindet“ vor jedem neuen Bild ganz „gezielt“ oder löscht das Gemalte aus seinem Gedächtnis in einem Akt des gesteuerten Vergessens. So wird das Malen auch zu einem Akt der Selbstbefragung und der Selbstvergewisserung. Die Beschränkung auf ein Motiv ermöglicht in dem immer Gleichen die Unterschiede zu sehen. In den Veränderungen sich selber zu lesen, die eigene Verfasstheit, die Stimmung, die Befindlichkeit, das Bewusstsein, erkennt der Künstler die Fülle des inneren Ich. So kann jedes Bild auch als eine Art Selbstporträt verstanden werden, entstanden in einem unwiederbringlichen Moment: Materialisierte Zeit, zur Materie gewordene Erinnerung.