Hinter dem Spiegel
Irene von Neuendorff
Wesen – Subjekte – können sich nicht selbst anschauen. Sie können sich selbst auch nicht von hinten sehen. Auch nicht aus der Entfernung.
Die einzige Möglichkeit, sich ins Gesicht zu sehen, ist die Betrachtung des Spiegelbildes. Dieses gläserne Echo ist zweidimensional und seitenverkehrt. Nur als solches können wir das eigene Antlitz wahrnehmen und feststellen: Ich bin das. Und auch in der Frage: Das bin ich? Die Betrachtung als Selbstvergewisserung.
Selbstbildnis
Der mittlerweile 84-jährige Maler und Grafiker Peter Dreher hat kaum Porträts von sich gemalt. Das macht ihn zu einer Ausnahmeerscheinung unter den figurativen Malern. Ist doch das Selbstporträt ein beliebtes Sujet der Darstellung. Die einzige Ausnahme bilden die zwischen 1977 und 1979 entstandenen Selbstporträts an der Außenfassade der Universitätsbibliothek Freiburg. Diese waren als Kunst-am-Bau-Projekt geplant und verwirklicht worden. Der Künstler beantwortet die Frage, warum er für diesen Auftrag ausgerechnet das eigene Konterfei – und das auch noch in sechsundsechzigfacher Ausführung – gewählt hat, folgendermaßen: „Ich bekam den Auftrag, für die neu geschaffene Universitätsbibliothek in Freiburg ein Konzept für die Außenfassade zu erstellen. Nach einer gewissen Überlegung erschien mir die Vorstellung, Selbstporträts an ein öffentliches Gebäude zu malen, ungefähr das Absurdeste zu sein, was möglich war.“ Das schienen die Passanten, die den Maler bei seinem Tun beobachten konnten, auch so zu empfinden. Peter Dreher malte Pleinair in Echtzeit, für jeden, der vorbeikam, sichtbar. So sagte einer, ausgerechnet ein Kollege, zu dem Maler: „Sie würden am liebsten die ganze Stadt mit ihren Selbstporträts überziehen.“ In die Metaebene übersetzt bedeutete dies: Sie eitler Sack! Mit dieser Stichelei machte sich der Malerkollege über ein Vorhaben lustig, das er selbst wohl so nicht gewagt hätte.
Bis heute gilt die Bescheidenheit als eine der wichtigen deutschen Tugenden. Wenn schon, dann heben einen die anderen hervor und auf keinen Fall man selbst. Selbstbeschau deshalb bitte nur im Atelier.
Einen Vorwurf, den man ausgerechnet einem wie Peter Dreher nicht machen kann. Denn hinter der Absicht dieses Universitätsbibliotheksprojekts standen nicht Eitelkeit und Wichtigtuerei, sondern genau das Gegenteil, das Absehen von der eigenen Person und ihrer Bedeutung: Das Subjekt machte sich zu einem Sujet – wie es beispielsweise Äpfel, Gebäude, Waffen, Münzen, Pokale sind. Das Subjekt machte sich zu einem Objekt.
Und ausgerechnet ein Objekt war es dann auch, das schließlich zu einem Selbstporträt des Malers wurde: ein Glas. Sein magnum opus Tag für Tag guter Tag zeigt bis heute über fünftausendmal ein und dasselbe Birnenmostglas. Es ist bei Tag und bei Nacht unter den exakt gleichen Bedingungen – Abstand, Abstellfläche, Bildhintergrund – einmal bei künstlichem und einmal bei Tageslicht gemalt worden. Um die Bedingungen möglichst identisch zu halten, bediente er sich einer Schablone. Die Kunsthistorikerin Angeli Janhsen spricht in ihrer Abhandlung richtigerweise von einer „Versuchsanordnung“: „Hier steht das Glas, hier sitzt der Maler, hier ist die Leinwand, hier ist die Beleuchtung. Die immer gleiche Beleuchtung und Positionierung kann man gewährleisten, so daß dasselbe Glas also immer gleich erscheint.“ Sie stellt im Anschluss daran die einzig mögliche Frage, die den Befrager dazu verleitet, sich selbst an einer Antwort zu versuchen: „Aber interessiert ihn das überhaupt, immer möglich gleich zu malen? Will er ähnliche Bilder oder interessiert ihn die Verschiedenheit?“ Dreher verdeutlicht seinen Standpunkt, man müsse das Modell, das Sujet nicht wechseln, um das Interesse an der Malerei wach zu halten. Im Gegenteil, die immer gleichen Bedingungen verdeutlichen die Bedeutung des Aktes des Malens. Zugleich zeigen aber die kleinen Unterschiede in der Reihe die Befindlichkeiten, die Veränderungen bei und in demjenigen, der sich selbst zum Instrument dieser Versuchsanordnung gemacht hat.
Die Irrtümer
Peter Dreher ist von vielen Kunsthistorikern und Galeristen in die Reihe der Konzeptkünstler gerückt worden. Einer der wesentlichen Irrtümer über sein Werk Tag um Tag guter Tag. Häufig wurde er in einem Atemzug mit On Kawara oder Roman Opałka genannt. Man rechtfertigte diese Bezugsetzung mit der Tatsache, dass alle drei mit Serien arbeiteten. Aber reicht das als Erklärung? Die Absichten sind jeweils völlig verschiedene: On Kawara „malt Zahlen“, in seinen Date Paintings verwendet er seine Biografie als Material oder nimmt gar die Menschheitsgeschichte in den Blick, wie es die Kunsthistorikerin Angeli Janhsen auf den Punkt bringt. Auch die fast poetisch anmutende Einschätzung über Roman Opałka stammt von ihr: „Er malte Zahlen, zählte malend.“
Aber Peter Drehers Hauptanliegen war weder die Erstellung einer Serie noch plante er mit der Gläserreihe die Materialisierung der Zeit oder einen Lebensbericht in Bildern. Die Serie war das Nebenprodukt seines Tuns, nachdem er das Motiv nicht mehr wechselte. Er malte das Glas X, hängte das Bild an die Wand zu seinen Vorgängern, kein zweiter Blick, schon gar kein vergleichender. Damit verschwand es in der Reihe. Dreher vergaß es gezielt, wandte sich erneut seinem Modell zu, als sähe er es zum ersten Mal.
Als Fazit des Vergleichs Peter Drehers mit den Konzeptkünstlern On Kawara und Roman Opałka hält Angeli Janhsen fest: „Roman Opałka war malend und zählend gefangen und gehalten in seiner Spielregel, er war seine eigene Geisel – denn hätte er aufgehört, wären alle vorigen Anstrengungen entwertet gewesen. Peter Drehers Bilder dagegen folgen so aufeinander, dass es sowieso Lücken gibt. Sie schließen nicht aneinander an, es sind einzelne, unabhängige Bilder, er könnte jederzeit aufhören, ohne daß die früheren Bilder an Wert verlören.“
Projekt Birnenmostglas
Das Birnenmostglas, das als Modell für mehr als fünftausend Stillleben mit dem gleichen Motiv diente, wird von vielen Kunsthistorikern als einfacher, ja bescheidener Gegenstand bezeichnet. Hier deutet man gründlich an der Einschätzung des Urhebers dieser Arbeiten vorbei. Glas ist für Dreher ein ganz besonderes Material. Etwas, „das nicht von dieser Welt erscheint.“ Es ist zweifellos eine komplizierte Materie, eigentlich unsichtbar, unwirklich, ephemer. Seine Flüchtigkeit suggeriert einen anderen Aggregatzustand: nur für kurze Zeit wahrnehmbar, fragil, zerstörbar ... wie ein gasförmiger Stoff.
Tatsächlich ist Glas aber hart und stabil. Vor allem die Maler des Goldenen Zeitalters in den Niederlanden haben sich dieses Paradoxons angenommen. Sie trieben ihre Kunstfertigkeit auf die Spitze und verlangten der Wahrnehmung der Betrachter ihrer Werke Höchstleistungen ab. Oftmals musste ein weißer Punkt, eine zarte gräuliche Linie reichen, um den Gegenstand zu evozieren. Es war nicht mehr die Materie, die sich in die Netzhaut grub, sondern das eigentlich Immaterielle, der Reflex, die Spiegelung.
Es ist viel in dieses Projekt hineingeheimnisst worden. Sehr häufig stellte man Peter Dreher in die Nähe des Zen-Buddhismus. Erklärte seine Malerei zu einer meditativen Übung. Unbestritten ist das Malen für Peter Dreher unter anderem auch eine Art von Meditation. Aber Malen als Zen-Übung? In dieser strengen japanischen Variante des Buddhismus weist der Lehrer seine Schüler immer wieder zur Wiederholung ein und derselben Tätigkeit an. Die Eleven sollen üben, solange bis sich die Tätigkeit – zum Beispiel das Bogenschießen – wie von alleine vollzieht. Das zielt aber im wahrsten Sinne des Wortes an Peters Drehers Malabsicht vorbei. Er will durch die Wiederholung des Motivs beziehungsweise durch die Tatsache, dass er das Modell nicht wechselt, nicht eine immer größere Kunstfertigkeit bis zur Vollendung erreichen. Im Gegenteil, sein ganzes Sinnen und Trachten ist darauf gerichtet, die gerade gemachte Erfahrung wieder zu vergessen. Er erblindet sozusagen gezielt vor dem Modell.
Die Tradition
Peter Dreher ist nur einem verpflichtet – der Malerei. Damit steht er in der großen Tradition der Karlsruher Schule. Im Jahr 1854 als Großherzogliche Badische Kunstschule von dem damaligen Großherzog Friedrich I. von Baden gegründet, wurde sie sehr schnell mit ihrem fortschrittlichen Lehrprogramm zu einem wichtigen Zentrum der Malerei innerhalb Deutschlands. Bedeutende Künstlerpersönlichkeiten wirkten an ihr, wie Johann Wilhelm Schirmer, Karl Friedrich Lessing und Hans Thoma. In den 1980er-Jahren unterrichteten dort die Malerstars des Neoexpressionismus, Georg Baselitz und Markus Lüpertz. Nach Naziterror und Zweitem Weltkrieg wurde sie als Badische Akademie der Bildenden Künste, wie sie nun hieß, 1948/49 wieder eröffnet. Peter Dreher begann sein Studium 1950 bei Karl Hubbuch, wechselte dann zu Erich Heckel und beendete es, nachdem Heckel pensioniert wurde, bei Wilhelm Schnarrenberger. Während seiner Studienzeit dominierte ein gestisch-expressionistischer Malstil, der als Modifikation und Weiterentwicklung dessen gelten kann, was die europäische Avantgarde zu Beginn des 20. Jahrhunderts mitbegründet hatte. In dieser Zeit der Nuller- und Zehnerjahre probierten die Mitglieder der Fauves in Frankreich, die Künstlergemeinschaften in Berlin Die Brücke und in München Der blaue Reiter verschiedene malerische Möglichkeiten aus. Man experimentierte mit Farbe und Form, trieb den Gegenstand in Reduktion und Vereinfachung bis zur Abstraktion. In den Zwanzigerjahren entwickelte sich unter dem Einfluss sozialer und gesellschaftlicher Spannungen eine Strömung, die als Neue Sachlichkeit politisch und gesellschaftskritisch wirken wollte und dafür zu einem überscharfen Realismus zurückkehrte. All diese Bewegungen fanden sich in der Studienzeit Drehers wieder. Er studierte bei einem Vertreter der Neuen Sachlichkeit, Karl Hubbuch, und bei einem ehemaligen Brücke–Mitglied, Erich Heckel. In dieser Zeit der späten 1940er- und 1950er-Jahre herrschte ein tiefes Misstrauen gegenüber figurativen, neusachlichen Tendenzen. Diese waren durch die Kunstdoktrin des Dritten Reiches unter dem gescheiterten Maler und Führer Adolf Hitler gründlich missverstanden und sogar missbraucht worden. Von daher setzte man mehr auf die Tradition der großen Künstlervereinigungen Die Brücke und Der blaue Reiter und ließ sich ebenso von Strömungen aus den USA, wie zum Beispiel dem abstrakten Expressionismus, inspirieren. Allzu realistische Malerei war verdächtig, hatte geradezu einen Hautgout.
Nach einem eher expressiven Frühwerk, das noch stark unter dem Einfluss Heckels stand, und einer abstrakten Episode, die bis in die 1970er-Jahre währte, fand Peter Dreher 1963 mit zwei Schlüsselwerken, dem Stillleben mit Tassen I und dem Stillleben mit Tassen II zu der figurativen Tradition eines Hans Thoma oder eines Karl Hubbuch zurück und transformierte sie in seinen ganz eigenen Malstil. Die oben genannten Gemälde bilden die Gelenkstelle zwischen abstrakter und figurativer Malerei und kündigen das magnum opus Tag um Tag guter Tag bereits an. Es ist schon alles da: die Serie und die Repitition, der Umgang mit Zeit und Raum, ebenso wie zentrale Fragen in Bezug auf die menschliche Wahrnehmung. In den beiden Gemälden eröffnet der Künstler wie mit einem Paukenschlag alle Aspekte, die ihn in seinem zukünftigen Werk „umtreiben“ sollten. In Stillleben mit Tassen I zieht sich am oberen Rand ein schwarzer Streifen durch das Bild, der sozusagen ein Bild im Bild darstellt. Auf ihm in einer Reihe angeordnet: ein und derselbe Gegenstand. Es ist die Tauftasse seiner Großmutter mütterlicherseits. In Stillleben mit Tassen II steht diese Tasse auf einer Art hochbeinigem Tischchen. Ihre stabile Platzierung wird damit sozusagen erklärt. Am linken Bildrand ziehen sich drei Tassen durch das Format, unterlegt mit einem jeweils andersfarbigen Grund, von ihm eingerahmt und „gehalten“. Im unteren Drittel des Gemäldes schweben die Tassen frei vor dem weißem Hintergrund. Die Figur-Grund-Beziehung ist an dieser Stelle entbehrlich geworden. Es bedarf hier keinerlei malerisch geschaffener Raumillusion mehr. Alle Gegenstände sind fragmentarisch dargestellt, als hätte der Maler seine Arbeit an ihnen eingestellt. Dem Betrachter wird nun abverlangt, diese Fragmente durch seine Wahrnehmungserfahrung zu ergänzen. Und ganz bescheiden – an den rechten Bildrand gerückt, als hätte die Leinwand dort nicht mehr gereicht – das Konterfei des Künstlers. Hier blickt jemand in den Spiegel: Ich bin das. Bin das ich? Beiläufig erzählt. Ist das, was ich sehe, die Wirklichkeit, oder ist es nur eine Illusion derselben?
Mikrokosmos
Serien nehmen in Peter Drehers Schaffen einen großen Platz ein, wie der schon genannte Werkkomplex Tag um Tag guter Tag, oder die Reihen von Landschaften und Himmelsformationen in der Umgebung seines Ateliers in St. Märgen im Südschwarzwald, die Serie der Silverbowls oder die Serie der Vitrines, um einmal die wichtigsten zu nennen. Was interessiert den Künstler an der Herstellung von Reihen? Den Aspekt des reinen Konzeptes kann man ausschließen. Auch die Erklärung des Malens als Akt der Meditation und Übung griffe zu kurz. Die Antwort ist ebenso simpel, so wie es schwer ist, sie in Worte zu fassen. Dreher interessiert sich für nichts mehr oder weniger als dafür, die Möglichkeiten der Malerei zu erfassen. Bezeichnete man ihn schon einmal im Zusammenhang mit der schieren Zahl seines Bildkomplexes von über fünftausend Glasbildern als „glücklichen Sisyphos“, schon muss man ihn jetzt einen „glücklichen Narren“ nennen, denn er strebt in seinen Werken, zum großen Teil feine, kleine Kabinettformate, nichts anderes an als einen Mikrokosmos zu erschaffen. Er, der die Ichlosigkeit zum Ideal erhebt, der – ohne dass er es ausspricht – dem Prinzip der Ziellosigkeit folgt, macht sich zu einem Instrument und hat an dieses den Anspruch, dass es alle Töne spielen kann. Dabei ist er mit einer unendlich kostbaren Gabe ausgestattet, die ihn zu einer Stradivari der Farben macht: sein absolutes Sehen. Sein Gehirn oder besser sein Sehzentrum leistet etwas, was man aus dem Bereich des Hochleistungsautismus kennt, besser bekannt als Inselbegabung oder Savant. Es ist so fein chromomatisch abgestimmt, dass es jeden Farbton in seinen allerfeinsten Fragmentierungen ausrechnen und diesen manuell auf der Palette wieder herstellen kann. Unter tausend Malern kommt diese Fähigkeit vielleicht ein einziges Mal vor. Und die Werke dieser Menschen strahlen von den Museumswänden wie von hinten erleuchtet, sie tragen ein inneres Feuer wie ein Edelstein: die Arbeiten von Jan Vermeer, von Henri Fantin–Latour, von Gustave Caillebotte oder von Vilhelm Hammershøi.
Es gibt frappierende Beispiele aus dem Bereich hyperrealistischer Malerei, zum Beispiel die Arbeiten des US-Amerikaners Richard Estes und die des Schweizers Franz Gertsch. Wie kann das sein, fragt man sich im Angesicht der frappierend akribisch gemalten Straßenschluchten und überdimensionaler Porträts, dass das von Hand, von Menschen gemacht ist und gleichzeitig wie das Erzeugnis eines Fotoapparates wirkt. Die Mimikry des Menschen an die Maschine scheint das tragende Faszinosum seiner Betrachtung auszumachen. Man könnte darüber spekulieren, warum heute Fotografen mit ihren Arbeiten vorgeben, als würden sie malen, während Maler so tun, als seien ihre Erzeugnisse Ergebnisse eines maschinellen Prozesses. Geht es um Wahrhaftigkeit? Geht es um Misstrauen gegenüber der Wirklichkeit? Gar um Misstrauen gegenüber der eigenen Wahrnehmung? Betrachtet man ein Porträt von Franz Gertsch, dann sieht man glatte, unangreifbare, perfekte Flächen wie von einer Maschine gemacht. Nein, hier hat sich jemand zur Maschine gemacht. Zu etwas, das sich Vorgaben strikt unterwirft, Vorgaben von Projektoren und Schablonen. Der Maler wird zur „Menschine“.
Peter Drehers Gemälde sind aus einer gewissen Distanz hyperrealistisch, betrachtet man seine Bilder von Nahem, löst sich die so illusionistisch wirkende Oberfläche auf. Dreher selbst nannte seinen Malprozess das Aneinandersetzen von Farbinseln. Diese sind bei näherer Betrachtung deutlich sichtbar. Hier wurde nicht mit einem Pinselhaar gehext! Fast pastos erscheinen die Reflexe, fast grob die Lineatur der Spiegelung, um sich – wie bei einem Zaubertrick – von einer gewissen Entfernung aus in die perfekte Illusion zu fügen. Hier hat jemand mit großer Freiheit und mit unendlichem Vertrauen in sich selbst gewirkt. Nichts erscheint kalkuliert. Es wird deutlich, dass Dreher es sich leisten kann, auf Virtuosität zu verzichten.
Vanitas! Vanitatum Vanitas!
„Mein sind die Jahre nicht,
die mir die Zeit genommen; / Mein sind die Jahre nicht,
die etwa möchten kommen; / Der Augenblick ist mein,
und nehm ich den in Acht / So ist der mein,
der Zeit und Ewigkeit gemacht“, schrieb der bekannte Barockdichter Andreas Gryphius im 17. Jahrhundert. Seine Betrachtungen über das unaufhörliche Verrinnen der Zeit und die Endlichkeit allen Lebens beschäftigte seine Zeitgenossen und ängstigte sie: Vanitas vanitatum et omnia vanitas. Dies könnte man in der heutigen Übersetzung so lesen: Völlig sinnlos ist alles. Was auch geschieht, es hat keinen Sinn. Die Vorstellung von der Nichtigkeit menschlichen Tuns, ja sogar Bedeutungslosigkeit der eigenen Existenz, mag auf den modernen Menschen negativ, bisweilen niederschmetternd wirken. Ist man doch heute von der eigenen Sinnhaftigkeit und der Optimierungsmöglichkeit des eigenen Selbst überzeugt. Das Individuum zählt, der Mensch findet seine Daseinserklärung und seine Aufgabe nicht mehr in und durch die Gruppe wie in der Barockzeit oder gar im Mittelalter. Ebenso haben Religion und Kirche als Institution an Bedeutung verloren. An ihre Stelle sind Substitute gerückt, Ersatzreligionen und Ersatzgötter. Anything goes – auch im spirituellen Bereich. Aber die Angst vor dem großen Unbekannten – dem Tod – ist geblieben.
Der Tod als das ewige Tabu. Das erklärt auch häufige Reaktionen auf eine Reihe von Bildern und Grafiken Peter Drehers, die den Totenschädel zum Thema haben. Einzelne Galeristen scheuten beim Anblick der Totenkopfbilder geradezu zurück: Das kann ich meinen Kunden nicht zumuten, war der übereinstimmende Tenor. Im Mittelalter und im Barock wurden Bilder gelesen. In einer Gesellschaft, in der mehr als 80 Prozent der Bevölkerung Analphabeten waren, wurde die Kenntnis der christlichen Ikonografie vorausgesetzt. Kunstwerke dienten der Kirche sowohl als Instrument der Propaganda als auch des Terrors. Dämonen und Höllenstrafen veranschaulichten drastisch, was den Sünder im Jenseits erwartete. Der Totenkopf scheint bis heute seinen Schrecken nicht verloren zu haben. In einer Gesellschaft, in der das Leben künstlich fast bis zur Unendlichkeit verlängert werden, in das menschliche Genom eingegriffen oder der Fötus im Mutterleib operiert werden kann, ist der Tod eine lästige Nebenerscheinung, die man hinter die Türen von Altenpflegenheimen, Hospizen oder Krankenhauszimmern verbannt. Früher wurde öffentlich gestorben, im Kreise der Familie:
„Christoph Detlevs Tod lebte nun schon seit vielen, vielen Tagen auf Ulsgaard und redete mit allen und verlangte. Verlangte, getragen zu werden, verlangte das blaue Zimmer, verlangte den kleinen Salon, verlangte den Saal. Verlangte die Hunde, verlangte, daß man lache, spreche, spiele und still sei und alles zugleich. Verlangte Freunde zu sehen, Frauen und Verstorbene, und verlangte selber zu sterben: verlangte. Verlangte und schrie.
Denn wenn die Nacht gekommen war und die von den übermüden Dienstleuten, welche nicht Wache hatten, einzuschlafen versuchten, dann schrie Christoph Detlevs Tod, schrie und stöhnte, brüllte so lange und anhaltend, daß die Hunde, die zuerst mitheulten, verstummten und nicht wagten sich hinzulegen und, auf ihren langen, schlanken, zitternden Beinen stehend, sich fürchteten.“
Das Sterben im Kreis der Familie war eine stete Mahnung daran, für die, die zurückblieben, dass das Leben endlich und unwiederholbar ist. Heute ist dieser Tod unsichtbar geworden. Dabei verwirklicht der Tod Gerechtigkeit, denn sterben müssen wir alle.
Auch nimmt die Anstrengung, den natürlichen Altersprozess nach außen hin unsichtbar zu machen, grosteske Formen an: bis zum Zerreißen gespannte Stirnen, in ein Grinsen erstarrte Mundpartien und absurd gewölbte Lippen, die an Karikaturen von Säuglingen denken lassen.
Daneben herrscht ein ungebremster Drang nach Individualität, nach Selbstverwirklichung und Optimierung. Die Erkenntnisse der Wissenschaft werden in den Dienst dieses Strebens gestellt. Dabei macht der Tod als einzige Unbekannte uns Angst in einer hell ausgeleuchteten Welt. Aber vielleicht macht uns auch das Angst, was unter dieser Individualität lauert, hinter dem Spiegel und unter dem Grund: das universelle, nackte, von Haut und Fleisch entblößte Gesicht. Ewig grinsend.
Peter Dreher sagt zu seiner Entscheidung, den Totenkopf zu malen, dass ihn diese runde, kugelige und damit perfekte Form gereizt habe. Die Bedeutung dieses Modells hätte ihn weniger interessiert, wenn er auch die Reaktionen der Außenwelt darauf zur Kenntnis nahm und sich Gedanken darüber machte.
Seit dem Jahr 2005 sind sechs große Papierarbeiten entstanden, die den Totenkopf zum Thema haben. Die Arbeiten sind 156 mal 300 Zentimeter groß und setzen das Motiv auf unterschiedliche Weise in Szene. Der Malträger war eine zehn Meter lange Papierbahn, aus der sich Dreher verschiedene Formate zurechtschnitt. Dann grundierte er diese mit schwarzer Acrylfarbe. Diese musste deckend, strapazierfähig sein und so isoliert, dass sie sich nicht mit den darübergemalten Motiv verband und vermischte. Es bedurfte vieler Versuche, bis diese Farbe endlich gefunden war. Im Anschluss an den Grundierungsprozess setzte der Künstler mit Hilfe einer Schablone die Umrisse der Totenschädel. Innerhalb dieser vorgegebenen Grenze ließ er dann die weiße Gouachefarbe sehr flüssig auf der Malfläche verlaufen. Dabei griff er nur so vorsichtig steuernd ein. Die Malfläche gestaltete sich so mehr oder weniger selbst. Der Zufall wurde dadurch zum „Künstler“. Es gibt mehrere Arbeiten, wo die „Skulls“ vor weißem Hintergrund angeordnet sind, weil der Künstler den Umraum wieder weiß gemalt hat. Der unruhige Pinselduktus ist an diesen Stellen gut zu erkennen. Der Prozess der Umraumgestaltung wird dadurch für den Betrachter nachvollziehbar. In ihrer schieren Fülle, auf manchen Formaten sind bis zu hundert Skulls dicht an dicht angeordnet, verliert das einzelne Motiv sein Gewicht und damit seinen Schrecken und wird einfach zur Form.
Auch hier wird ein wichtiges malerisches Thema „durchgearbeitet“: die Figur-Grund- Beziehung. Die einfache Form, die die Schablone nicht verleugnet, ist die einfachstmögliche. Es gibt keine Licht-Schatten-Modulation, keine Illusion von Dreidimensionalität auf der Fläche. Stattdessen der unendliche Variationsspielraum verschiedener Farbinseln.
Peter Dreher ist es – man ahnt es schon – um die Malerei gegangen. Und um sich als Instrument. Und um den Zufall.
Die Auseinandersetzung mit der Beziehung zwischen Motiv und Raum wird in den verschiedenen Werkgruppen, von denen viele Serien sind, in unterschiedlicher Weise erfahrbar. Bei der Serie Tag um Tag guter Tag (seit 1974) ist die Raumillusion durch die Reflektion, die sich unter der Standfläche des Glases zum unteren Bildrand fortsetzt, gegeben. Bei den supraillusionistischen Silverbowls (seit 2012) fehlt diese Reflektion und die Gegenstände scheinen im weißen Umraum zu schweben. Noch deutlicher evoziert Dreher dieses Schweben in seiner Reihe Pulbs (seit 2013). Hier verzichtet er auf die Schablone, die den Gegenstand in der immer gleichen Größe und an der immer gleichen Stelle festschreibt, vollständig. Die Motive werden frei in den Bildraum gesetzt und erwecken durch ihre glatte und delikate Oberfläche die Assoziation von Seifenblasen – übrigens auch ein in der Barockzeit beliebtes Vanitas-Symbol. Dreher lässt jetzt mehr Varianten im Spiel mit dem Umraum zu: Die Gegenstände vermitteln den Eindruck, indem sie angeschnitten sind, als schwebten sie frei im Raum, durch das Bildformat hindurch. Der statische Eindruck, den die Gläser und Silberschalen vermittelten, weicht nun einer mehr dynamischen Wirkung. Das Bild wird zur Momentaufnahme.
Neben den großen Papierformaten „Skulls“ gibt es kleine Kabinettformate in derselben Größe wie das Glas: ebenfalls weißer Totenkopf auf schwarzem Grund. Hier verwendete Dreher auch schwarzes Tonpapier und nahm mit dieser einheitlichen Farbigkeit die Wichtigkeit des Umraums zurück.
Die vollkommene runde Form fesselte den Künstler weiter: 2006 entstanden circa 20 kleine schwarz-weiße Zeichnungen ungefähr postkartengroß (15 × 10 cm). Das Faszinierende ist weniger das, was da ist, sondern viel mehr das, was weggelassen wurde. Die Zeichnung vom Totenschädel ist nur als Fragment sichtbar.
Peter Dreher ist fasziniert von Edmund Husserls „Phänomenologie“ und das, was in dieser philosophischen Lehre als „Abschattung“ bezeichnet wird. Damit bezeichnet der Philosoph die Unmöglichkeit, einen Gegenstand in seiner Gesamtheit wahrzunehmen. Dieser kann aus unendlich vielen Perspektiven betrachtet werden. Dabei verdeckt die jeweils eingenommene Perspektive des Betrachters die anderen möglichen „Wahrnehmungsseiten“ des Gegenstandes. Unsere Wahrnehmung ist also nur ein Trugbild. Im Grunde genommen sehen wir immer „ein Bild“, einen Ausschnitt aus dem Gesamten. Das, was wir nicht sehen, ergänzt unser Gehirn aus der Erfahrung. Unser Sehen ist also fragmentarisch, lückenhaft, ja streng genommen zweidimensional. Zweidimensional wie unser Spiegelbild.
Peter Dreher verdeutlicht den Sehakt mit seinen Arbeiten, die sich unter dem Arbeitstitel „Fragmente“ zusammenfassen lassen. Der Betrachter spielt bei den „Fragmenten“ in der Trias Künstler – Werk – Kunstwerk eine viel aktivere Rolle als er das bei einem Werk täte, das bis zum Letzten ausformuliert ist: Man kann nicht das sehen, was in einem selbst schon vorhanden ist. Deshalb wird jede echte Wahrnehmung auch immer ein Erkennen sein.
Seit 2014 hat Peter Dreher die Werkserie Totenköpfe wieder besonders in den Fokus genommen. Die Auseinandersetzung mit diesem Motiv hat die Beschäftigung mit der „Versuchsanordnung Birnenmostglas“ abgelöst. An einem guten und ungestörten Arbeitstag entsteht ein Totenschädel, in Öl auf Leinwand gemalt, oder eine Zeichnung. Was sich der Künstler während der Arbeit an der Werkreihe Tag um Tag guter Tag abverlangt hat, die Strenge seiner „Versuchsanordnung“, die Variablen weitestgehend verhindert, das ist jetzt einer großen Freiheit gewichen. Mit einer fast kindlichen Freude und einer unerschöpflichen Entdeckerlust wird jetzt alles ausprobiert: Malen mit Fingern, Zeichnen mit Kugelschreiber, aus jeder nur möglichen Perspektive, frei im Format flottierend, Motive in waghalsigen Kombinationen. Statt „guns and roses“ malt Dreher „flowers and skulls“.
Er braucht keine Beschränkung mehr, um das zu feiern, was er liebt und was ihm so selbstverständlich wie das Atmen ist: der Umgang mit Malerei.
Was für eine Aussicht auf sein „Alterswerk“!
Carpe diem.