Ein solitärer Silberkelch ist bildraumfüllend vor einen hellen Grund gestellt, nichts weiter lenkt von ihm ab. Peter Dreher bevorzugt den englischen Begriff silverbowl. Vielleicht rührt es daher, dass er ihn einst in den USA erworben hatte. Scheinbar nachlässig und rasch auf Hochglanz gebracht steht der Kelch, oft noch mit beiläufigen Spuren von Oxydation, vor einem weißen Hintergrund, ganz ähnlich dem, der berühmten Gläser-Serie »Tag um Tag guter Tag«. Wenig Raum ist dahinter auszumachen, bevor die Wand kommt, vielleicht passt eine Hand dahinter. Keine Farbigkeit lenkt vom Hauptgegenstand des Bildes ab, Dreher hat das Weiß des Hintergrunds mit Spuren verschiedener Töne u.a. von Blau, Rot, Ocker und Braun zu einem seiner ungemein warmen Grautöne in äußerst strenger Zurückhaltung abgemischt: »mönchisch farbdiszipliniert« könnte man sagen. Der eng gefasste Raum schafft seinerseits Intimität. Der Betrachter fühlt sich allein mit dem Kelch. Es gibt Kunstwerke, in denen man Gesellschaft und Geselligkeit spüren kann, auch wenn keine Menschen abgebildet sind. Und sei es die Gegenwart von Natur, von Flora und Fauna, sie mag uns Einsamkeit vermitteln, doch niemals können wir uns in Monets Garten von Giverny alleine wähnen, niemals in den Mittelgebirgen Caspar David Friedrichs, auch die prachtvolle Körperlichkeit im Werk von Markus Lüpertz ist kaum für das Gefühl intimer Zweisamkeit geschaffen. Anders bei Peter Dreher.
Ruhe strömt dem Betrachter entgegen, der sich sofort auf den kleinen Raum einlassen kann. Meditative Stille. Aber sie unterscheidet sich von der Stille seiner Gläser und Vitrinen-Serien. Bei den silverbowls pulsiert irgendetwas, es ist eine geheimnisvolle Spannung spüren, ein Knistern, das in der Luft liegt, wie kühle Erotik.
Anders als Glas weiß Silber Verheißungen zu symbolisieren. Wir können nicht hindurchblicken, wir können es nicht „durchschauen“ in des Wortes wahrstem Sinne. Das weckt erst des Menschen Neugier. Genauso entsteht auch Erotik: Verheißung auf das, was wir nicht sehen können, aber was unsere Phantasie beflügelt. Und dann glänzt das polierte Edelmetall auch noch, so als ob es alle Reize ausspielen wolle.
Der Silberkelch vermag die Phantasie gleich dreifach zu befeuern: durch seine Form und sein Material gleichermaßen, nicht zuletzt durch seine überragende Symbolik. Das nachlässig polierte Silber verleiht ihm einen leicht abgematteten Spiegeleffekt, der aber durch die Form wiederum gebrochen wird. Wir nehmen uns und unsere Umgebung optisch verzerrt wahr, durch die runde Form verschlankt, vertikal verzogen. Während ein echter, glatter Spiegel Eitelkeit, Selbsterkenntnis und Wahrheit symbolisiert (man denke an Ovids Erzählung von Narziss in seinen Metamorphosen), weil er alles unverfälscht reflektiert, so verzerrt der spiegelnde Kelch von vorn herein jede Wirklichkeit. Wie oft haben wir in Kindertagen vor solchen Kelchen, vor Bechern und Pokalen gestanden und haben uns darauf zubewegt und wieder entfernt, uns an der körperlichen Verzerrung erfreut, an der Lust der Verwandlung. Alle Räumlichkeit wurde seiner Ordnung enthoben. Es waren erste Erfahrungen psychedelischer Bewusstseinsveränderungen, bei manchem folgten später welche, die nicht mehr nur optisch beeinflusst waren. Der glatte Spiegel ist Symbol sowohl der superbia wie zugleich der vanitas, des Hochmuts wie der Vergänglichkeit. Die Verzerrung des Spiegelbildes in den unterschiedlichen Rundungen des Kelches bricht damit, die Spiegelung gerät zur Travestie, zum Karneval der Optik. Goethe lässt seinen Dichter im Vorspiel zu Faust I. sagen: „Was glänzt, ist für den Augenblick geboren;/ Das Echte bleibt der Nachwelt unverloren“. Travestie für den Augenblick.
Silber glänzt. „Glanz ist wie licht“, heißt es im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm, „aber vielfach als dessen Steigerung empfunden. Im religiösen Bereich das Attribut alles himmlischen, göttlichen“. Glanz ist übrigens ein substantiviertes Adjektiv, das es nur im Deutschen gibt; die anderen Sprachen haben es dem Deutschen entlehnt. Eigenartig, dass Glanz ein ursprünglich deutsches Phänomen sein soll. Ludwig Marcuse irrte demnach mit seinem doppelt verneinten Bonmot: „Es ist nicht alles deutsch, was nicht glänzt.“
Glanz und Erotik gehören zusammen. Das weiß auch die Mode für sich zu nutzen. John Travolta hat nicht in matten Schlabberanzügen getanzt, sondern eine ganze Generation mit hautengen Glanzanzügen betört, David Bowie ebenso wie der ganze Glamrock der 1970er und 1980er Jahre – die sexuelle Befreiung von 1968 hat seinen künstlerischen Ausdruck gefunden. In der Damenmode sind die Beispiele noch vielfältiger. Das war immer schon so. So warnte schon Anfang des 14. Jahrhunderts der 1348 verstorbene Olmützer Bischof Johannes von Neumarkt vor dem weiblichen Glanz: „Wein reizet zu Unkeuscheit und mer reitzen die schonen antlutz glantzer frawen“. Glanz weckt die Aufmerksamkeit eines jeden Betrachters, sei es körperverhüllende Seide, sei es das Haar oder ein geschminktes Auge.
Peter Dreher lässt es glänzen in seinen silverbowls, doch niemals glänzt es bei ihm hart; er bricht den Glanz ein klein wenig mit Patinaresten und erzielt damit den Effekt einer tatsächlichen Verstärkung der Verheißung. Weniger ist Dreher mehr. Vielleicht können wir noch das Atelierfenster spiegelverkehrt im Stil des Kelches ausmachen? Oder seine Staffelei? Die anderen Spiegelungen setzen der Phantasie des Betrachters keine Grenzen. Steht da der Künstler selbst? Ist es sein Hemd? Bewegt sich eine schöne Frau im Hintergrund, ein schöner Mann? Welcher Sinnesfreude mag die eine oder andere Farbigkeit entstammen? Früchte oder Gläser? Wir haben keinen Zweifel, dass auch andere Personen zu sehen sein könnten, doch wiegen wir uns in der Sicherheit des Voyeurs. Wir haben keinen Zweifel daran, allein zu sein. Still zu beobachten. Vielleicht sind es wir selbst, die sich da spiegeln?
Wir können uns dank des weißglänzenden Edelmetalls spiegeln, aus dem der Kelch gearbeitet ist: Silber. Hochglänzend und doch leicht verformbar – duktil, wie der Chemiker sagt. Vergänglich bereits in seiner plastischen Verformbarkeit, erst recht vergänglich durch seinen hohen Wert , der dem Silber seit Jahrtausenden beigemessen wird. Die Menschheit verarbeitet es schon seit etwa 7.000 Jahren, seit der Jungsteinzeit also – so irreführend können Begriffe sein, so wenig Vorstellung haben wir von dieser Zeit, dass wir sie geringschätzig nach dem Werkstoff Stein benennen und doch mittlerweile wissen, dass Steinzeitmenschen bereits technisch und kulturell in der Lage waren, Silber zu verarbeiten. In allen Kulturen symbolisierte das Silber Weiblichkeit und mit ihr den Mond. Sogar den Azteken in Mittelamerika galt das Silber als Ausscheidung ihrer Mondgöttin Coyolxauhqui, die u.a. für Erotik und Fruchtbarkeit stand.
Den alten Ägyptern galt Silber als Symbol des Mondes und umgekehrt; er war weiblich konnotiert. Das blieb der Mond in allen Sprachen: luna im Lateinischen, Italienischen und Spanischen gleichermaßen oder la lune im Französischen. Ihm wurde die Sonne, das Gold, als Symbol des Mannes gegenübergestellt. Nur die Deutschen haben in ihrer Sprache die Geschlechter verkehrt. Die intuitive, kühle und unterschwellige Erotik, die von Peter Drehers silverbowls ausgeht, ist also außerhalb deutscher Traditionen durchaus wissenschaftlich zu unterfüttern. Das Silber ist unbestreitbar ein überragendes Symbol für Weiblichkeit. In der Bibel ist oft von Silber die Rede, beispielsweise in den Sprüchen Salomos heißt es: „Des Gerechten Zunge ist kostbares Silber; aber der Gottlosen Verstand ist wie nichts“. Die christliche Kirche überhöhte die Bedeutung des Silbers als einem Bild der Reinheit; die „unbefleckte“ Maria war damit gemeint. Schon in den Psalmen heißt es: „Die Worte des Herrn sind lauter wie Silber, im Tiegel geschmolzen, geläutert siebenmal“. „Läuterung“ bedeutet in der Bergmannsprache das Reinigen des Metalls von Schlacken und Verunreinigungen. Für die damalige Welt war aus den Erzgängen gewonnenes Silber mit das Reinste, was sie sich vorstellen konnten. Da lag die Verbindung zur Mutter Gottes nahe. Maria auf einem Mond gehört zu den beliebtesten Darstellungen, die sogenannte »Mondsichel-Madonna«; im Zeitalter des Barocks die sogenannte »Maria Immaculata«.
Peter Dreher wählte aber für die Darstellung von Silber nicht irgendeine Form, sondern die des kaum minder symbolträchtigen Kelches. Auch hier schießen dem Betrachter unzählige Bilder in den Kopf: Jesus reichte seinen Jüngern den Kelch beim letzten Abendmahl, Joseph von Arimathäa soll nach apokryphen Darstellungen in demselben Kelch das Blut Christi am Kreuz aufgefangen haben. Die Artus-Sagen beschäftigen sich hinlänglich mit dem heiligen Gral. Wir wissen aus Sagen wie der des Langobardenkönigs Alboin, dass aus Schädeln der Gegner Trinkschalen gemacht worden sein sollen. So entstand auch unser deutsches Wort Kopf über das spätlateinische cuppa zuletzt in bildlicher Übertragung aus dem mittelhochdeutschen kopf, was eine Gefäßbezeichnung war, so etwas wie eine Trinkschale. Aus demselben Stamm entwickelte sich die englische cup, Tasse, oder die italienische coppa, Kelch. Wenn in nationalistischer Überhöhung mal wieder von „deutschen Köpfen“ die Rede ist, dann meint das tatsächlich nur hohle Trinkgefäße…
Der Kelch ist für die amerikanische Soziologin Riane Eisler sogar das Symbol für Weiblichkeit in der Menschheitsgeschichte, sie hat ihr evolutionstheoretisches Meisterwerk danach benannt (»Kelch und Schwert«) Der Kelch wurde über die eucharistische Bedeutung in der Kirche zu einem Symbol von weiblicher Macht, nämlich der, der Mutter Kirche. Martin Luther verwendete gerne noch eine alte deutsche Redewendung: jemanden unter den Kelch stürzen. Damit meinte der Volksmund nichts weniger als die Unterwerfung gegenüber einer Macht (i.e. der Kirche), symbolisiert im Abendmahlskelch.
Hat Peter Dreher etwa dominante Erotik mit seinen silverbowls darzustellen versucht? Akademisch kodierte Visualisierungen Sacher-Masochs? Das wäre zwar nun eine logische Schlussfolgerung, hingegen, so weit wollen wir nicht gehen. Doch bleibt es dem Auge des Betrachters überlassen, darin auch dies sehen zu können.
In den biblischen Weisheitsbüchern heißt es nachdrücklich: „Es ist alles ganz eitel, sprach der Prediger, es ist alles ganz eitel!“ Das hebräische Wort, das im Deutschen mit „eitel“ übersetzt wurde, bedeutet wörtlich „vergänglicher Hauch“. In den lateinischen Übersetzungen wird gesprochen von: „Vanitas vanitatum et omnia vanitatis“. In der Bibelstelle schwingt die Annahme, dass alles in ewigen Kreisläufen geschieht, die nichts Neues bringen; es entwickelt sich im irdischen Dasein demnach nichts Greifbares, nichts Bleibendes. Die Predigersprüche gehen auch von der Nichtigkeit des Reichtums aus. Vanitas also. Eines der überragenden Kunstmotive schlechthin. Man denke dabei auch an die Schädelbilder von Peter Dreher.
Goethe lässt seinen Faust gleich zu Beginn in einem langen Verzweiflungsmonolog irdische Wertvorstellungen relativieren bei seiner Suche nach Erkenntnis: „Ist es nicht Staub, was diese hohe Wand, / Aus hundert Fächern mir verenget; / Der Trödel, der mit tausendfachem Tand / In dieser Mottenwelt mich dränget? / Hier soll ich finden, was mir fehlt?“. Reichtum wird zu Tand degradiert und stellt seine Nichtigkeit heraus, Faust verlagert sein ganzes Dasein in eine Mottenwelt und dem Zuhörer entstehen Bilder, wie alles, was einst aus Staub entstanden ist, von Motten wieder zu Staub zerfressen wird.
Shakespeares Macbeth wertet irdische Güter angesichts des Königsmordes zu Beginn des Dramas ab mit den Worten: „Wär ich gestorben / Nur eine Stunde vor dem Unglücksschlage, / Hätt‘ ich beglückt gelebt; denn nun, für immer / Ist nichts mehr werthvoll in dem Erdenleben: / Nur Tand ist Alles – Ruhm und Huld sind todt“. Macbeth erkennt nicht nur im Reichtum, sondern auch im Streben nach Ruhm die Vergänglichkeit: nur Tand sei alles. Das Motiv der eigenen Nichtigkeit angesichts göttlicher Kreisläufe.
Es geht um die Vergänglichkeit alles Irdischen, was die Erwartungen an das ewige Leben im Jenseits nach christlicher Vorstellung umso mehr kontrastieren und hervorheben sollte. Einerseits Vergänglichkeit im Spiegelbild (Eitelkeit), andererseits Vergänglichkeit des Reichtums (Nichtigkeit angesichts ewiger Kreisläufe). Beides vereint wird mit dem Stillleben in der Darstellung exotischer oder teurer Früchte und leicht verderblicher Nahrungsmittel wie Jagdbeute oder Fisch.
Das Aufkommen von Stillleben fällt in eine auffallende Koinzidenz mit Kriegen und Krisen. Pest bei Rogier van der Weyden, der Dreißigjährige Krieg bei den flämischen Stillleben des 17. Jahrhunderts.
„Fremd geworden ist uns hingegen das Lob, dass Stilleben vergänglichen Dingen Dauerhaftigkeit verleihen, weil diese Aufgabe gänzlich von der Malerei an die Photographie abgegeben worden ist. Damit verwandt ist die Wertschätzung von Stilleben als Ersatz für unerschwinglich kostbare Dinge“. Stillleben schlagen der Vanitas also doch ein Schnippchen, indem sie für den Betrachter konserviert werden: Früchte, die nie verfaulen, Fisch, der auch am dritten Tag noch nicht stinkt, mit anderen Worten: Reichtum, der doch nicht vergeht?!
Sollte denn nun die Vergänglichkeit vor Augen geführt oder Pracht konserviert werden? Die Kunstgeschichte ist sich darin nicht einig. Die auffällige Koinzidenz mit Kriegen und Krisen im Zusammenhang mit der Entstehung von Stillleben ist kaum weg zu diskutieren. Auch Peter Dreher gehört der jüngsten Kriegsgeneration an, hat als Jugendlicher die Zerstörung seiner Heimatstadt Mannheim erlebt. Vanitas-Symbole sind da nicht weit hergeholt. Aber im 17. Jahrhundert, nach den damals unvorstellbaren Schrecken des Dreißigjährigen Krieges, gehörten die merkantilen Auftraggeber der Stillleben weniger zu den Opfern, als oftmals vielmehr zu den Kriegsgewinnlern.
Warum genießen wir also nicht einfach die visuelle Kraft der bloßen Bilder mit ihrer vielfältigen, lebensprallen Symbolik? Niemand hindert uns daran, die einzelnen Gegenstände in ihrer Bedeutung dennoch zu hinterfragen.
Peter Drehers silverbowls erinnern uns an die Vanitas, die Vergänglichkeit, in vielerlei Hinsicht. Sie konservieren uns aber genau diesen vielfältigen Reichtum: Das wertvolle Silber, das verheißungsvolle Trinkgefäß, das Spiegelbild, vor allem aber Sehnsüchte und kühle Erotik. Wir Betrachter sind eins mit den silverbowls. Dürfen uns allein fühlen im Sinne eines Voyeurs im intimen Bildraum.
Jedes Bild Drehers erzählt uns dasselbe, doch immer anders. Nur scheinbar gleichen die Bilder dieser Serie einander. Erst in der Reihung entfalten sie ihre ganze Wirkung. Peter Drehers Serien sind das malerische »Polysyndeton«, wie die entsprechende Sprachfigur in der Linguistik genannt wird: „Und es wallet und siedet und brauset und zischt“, heißt es polysyndetonisch in Schillers Ballade »Der Taucher«. Genau das tun Peter Drehers Bilder auch. Nur intimer.